Die andere Wahrheit Kurzgeschichte von Heike Altpeter
Wir, mein Mann Anton und ich, waren gerade zu einer viertägigen Reise nach Dresden aufgebrochen. Diese wunderbaren Tage hatten uns unsere Kindern zum zwanzigsten Hochzeitstag geschenkt. Es sollte ein Ausflug in längst vergangene Zeiten und Kulturen werden. Unsere Fahrt verlief ruhig. Es gab einige Staus, aber alle auf der entgegenkommenden Fahrbahn. Ein Glück für uns.
Im Hotel angekommen, wurden wir freundlich begrüßt und bekamen unser Zimmer zugewiesen. Sehr Komfortabel, wenn ich das mal so sagen darf. Wir waren begeistert. Das Hotel lag sehr Verkehrsgünstig. Am nächsten Tag gingen wir auf Tour.
Die Stadt hatte viel zu bieten. Alles Sehenswerte lag in der Stadtmitte, die wir mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichten, auf engstem Raum. Die Semperoper, der Zwinger, die Frauenkirche die in neuem Glanz erstrahlte und diverse Museen, aber auch sehr gut erhaltene Architekturen. Es war mehr als beeindruckend.
In den folgenden Tagen gingen wir auf Entdeckungsreise. Die Elbe hinauf bis nach Pillnitz, einem sehr gut erhaltenen Schloss mit tollem Park. Eine zweistündige Schifffahrt machte diesen Ausflug unbeschreiblich schön. Die Königsburg schenkte uns ein unvergessenes Erlebnis. Die Moritzburg, auch sie war diese Reise wert. Abends, ermüdet vom Tag, aßen wir auf dem Zimmer Brötchen mit Wurst und Ei, tranken eine Dose Bier, die wir uns teilten, sahen noch etwas Fern und legten uns glücklich schlafen.
Am vierten Tag brachen wir nach dem Frühstück auf und fuhren weiter an die Ostsee. Wir hatten unsere Reise um eine Woche verlängert, um uns von der Stadt zu erholen. Als Dörfler schätzten wir das Landleben und bezogen in Niesgrau, nur achthundert Meter vom Wasser entfernt eine kleine schnuckelige Ferienwohnung. Das war doch eher unser Ding.
Land, viel grün, gute Luft – was brauchte man mehr.
Kapitel 1
Unsere erste Tätigkeit hieß Einkaufen, schließlich hatten wir ja nun eine ganze Woche Ostseeurlaub vor uns. Vor dem Kaufhaus in Steinbergkirche war ein Stand aufgebaut, der echt leckere Pralinen verteilte. Das kam uns nach der langen Fahrt sehr gelegen. Es gab dunkele für den Herrn und weiße für die Damen. Wir nahmen uns auch je eine zum probieren und trugen uns in eine Liste ein mit Adresse und unserer Meinung zu diesem Produkt. Im Urlaub hat man ja Zeit und macht auch mal bei so einem Blödsinn mit ohne nachzudenken. Nachdem wir eingekauft hatten und „zu Hause“ wieder alles in Ordnung gebracht war, aßen wir Abendbrot. Danach vielen wir todmüde ins Bett. Es war eigentlich zu früh um zu schlafen, trotzdem konnten wir die Augen nicht mehr offen halten.
Was man in der ersten Nacht in einer neuen Wohnung träumt geht in Erfüllung, so sagt es jedenfalls der Volksmund. Ich, ach so, ja! Mein Name ist Emma. Also ich träumte von einer Segelbootfahrt auf der Ostsee, vom Fischen und endlos langen Spaziergängen entlang des Sandstrandes, der diese Küste Kilometerweit begleitete. Selig träumend schlief ich in dieser ersten Nacht und freute mich auf den nächsten Morgen.
Hin- und wieder registrierte ich heftige Bewegungen meines Mannes der neben mir lag, vernahm Atemgeräusche. Er schien zu träumen. Dann schlief ich tief und fest.
Alles war gut – alles schien in Ordnung.
Anton rollte mit Unbehagen von einer Seite zur anderen, träumte er wäre in Strandnähe aus dem fahrenden Boot, mit dem er zum Angeln raus fahren wollte, kopfüber ins Meer gefallen, dabei musste er viel Wasser schlucken. Mit seinen Armen und Beinen versuchte er sich über Wasser zu halten. Dann war alles schwarz.
Gegen neun Uhr in der Früh wachte ich auf, sah zu Anton. Mein Kopf drückte ein wenig, ob wohl ich gut geschlafen hatte. Anton lag neben mir und schlief immer noch. Das musste an der guten Luft hier liegen, dachte ich mir und blieb ruhig liegen. Sonst war doch eher Anton der Frühaufsteher und nun war es schon nach neun und er schlief noch. Ungewöhnlich, aber es freute mich für ihn.
Endlich öffnete er seine Augen, räkelte sich und drehte sich zu mir um, lächelte, sah mich an. Anton, eindeutig – oder nicht?
Irgendwie verändert und seine Augen? Aber seine Stimme? Das musste Anton sein – wer denn sonst?
Irritiert, dachte ich noch zu träumen – stieg auf, ging zum Bad und zur Toilette, warf mir ein paar handvoll kaltes Wasser ins Gesicht. Jetzt war ich wohl wach und alles würde sich jetzt gleich aufklären. Fröhlich ging ich zurück zum Schlafzimmer. Anton stand nun mit dem Rücken zu mir: „Na Maus, gut geschlafen? Die Matratzen sind toll. Ich bin richtig ausgeruht. Machst du schon mal Kaffee? Ich komme gleich.“
Eindeutig Anton – kaum die Augen auf schon Kaffeegelüste.
„Ja, wunderbar geschlafen. Willst du ein Frühstücksei?“
„Sehr gerne.“ Anton klang wie Anton, bewegte sich wie Anton, sah aus wie Anton. War Anton.
Ich schnappte mir meinen Bademantel vom Stuhl neben meinem Bett und bewegte mich zur Küche. Am Abend vorher hatten wir schon alles, was wir mitgebracht hatten, eingeräumt. Das Frühstück war schnell gemacht. Während ich noch die Eier kochte, hörte ich Anton ins Bad verschwinden. Mit einem Tablett, das ich in der Vorratsecke der Küche gefunden hatte, trug ich Teller, Tassen, Besteck, Marmelade, Wurst, Käse, Brot, Butter und Kaffee ins Esszimmer, das sich gegenüber der Küche befand. Deckte den Tisch setzte mich und füllte schon mal den Kaffee in die Tassen. Kurz darauf kam Anton aus dem Bad, küsste mich auf den Nacken und setzte sich mir gegenüber. Griff nach dem Brot und der Butter.
Das waren effektiv nicht seine Augen?
Sie wirkten farblos, eher wie getrübtes Eiklar.
„Geht es dir gut?“ Argwöhnisch betrachtete ich mir mein Gegenüber. Irgendetwas hemmte mich aufzuspringen und zu fragen: „Wer bist du?“
Ich registrierte die Veränderungen, sah Anton – oder wer immer das war – griff nach meiner Tasse und nahm einen Schluck und machte „Mhhm!“
Wie hypnotisiert saß ich diesem Menschen gegenüber und begann mit dem Frühstück. Dieser Mensch machte alles, was auch mein Mann beim Frühstück so machte. Er pellte sein Frühstücksei, anstatt es wie ich mit dem Messer aufzuschlagen. Er legte es auf seine Scheibe Brot, zerdrückte es, bevor er es salzte. Mein Ei löffelte ich immer aus dem Eierbecher und tunkte Brotstreifen hinein. Es wirkte vertraut und dennoch sonderbar.
„Alles in Ordnung bei dir?“, fragend sahen mich diese fremden Augen an.
„Nein! Ähm, ich meine ja! Mit deinen Augen stimmt etwas nicht?“
„Was stimmt mit meinen Augen nicht?“
„Die sind irgendwie anders. Du hast doch braune Augen.“ Da war ich mir nach zwanzig Jahren doch wohl sicher.
Er schloss augenblicklich seine Augen, rieb darüber und öffnete sie wieder. „Klar, habe ich.“
Jetzt waren sie braun – sollte ich mich doch getäuscht haben?
Urlaubsstress, redete ich mir ein und Frühstückte weiter.
Die nächsten Tage schien alles normal zu sein. Wir machten Radtouren, gingen spazieren und einkaufen. Kochten, redeten, schauten Fern oder spielten Karten. Kuschelten auf dem Sofa.
Ich konnte keine Veränderungen mehr feststellen – aber Sex? Ich drückte mich so gut ich konnte, ohne dass Anton argwöhnisch wurde. Es kam öfter mal vor, das ich keine Lust dazu hatte. Lag wohl an den Wechseljahren?
Ein ganz normaler Urlaub – wie andere zuvor. Nichts Ungewöhnliches!
Bis zu diesem Tag, an dem sich mein Leben verändern sollte.
Kapitel 2
Wieder mal machte mir mein Knie nach einer längeren Wanderung entlang der Ostsee Probleme. In den letzten Tagen war das schon mehrmals so passiert und ich beklagte diesen Zustand.
„Scheiß Knie. Das darf doch wohl nicht wahr sein. Es ist schon wieder hängen geblieben. So ein Mist. Jetzt sind es doch nur noch drei Tage bis wir wieder nach Hause fahren. Das muss doch nicht sein.“
„Kann ich dir helfen? Zeig mal. Nun bleib doch mal ruhig stehen. Ja, halte dich an mir fest. Das wird gleich besser.“
Haha! Dachte ich mir, blieb aber stehen und hielt still. Anton legte mir seine Hand auf das Knie, stützte sich dabei mit der anderen auf meinem Bauch ab. Kurz dachte ich ein helles Licht in seiner Handfläche zu sehen. War aber auch schon gleich wieder vorbei. Mein Knie wurde heiß, prickelte etwas, dann wurde es kalt und angenehm.
„Was machst du da?“
„So versuche es mal. Na, geht es besser?“ Dabei schaute er mich so komisch an.
Wieder dachte ich, seine Augen hätten eine andere Farbe als noch vor wenigen Minuten.
Ein paar vorsichtige Schritte – ja, der Schmerz war weg. Wie durch Zauberhand, einfach weg. „Danke! Wie hast du denn das gemacht. Wie neu. Super!“
„Ach das ist der Rede nicht wert. Gehen wir wieder?“
Ein kribbelndes Gefühl in meinem Bauch zeigte mir, das etwas nicht stimmte. Aber wie in den letzten Tagen, registrierte ich dieses Gefühl, dachte kurz darüber nach und schob es zur Seite. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Dazu war der Urlaub einfach zu schön.
Gestern erst war mir ein Pärchen aufgefallen, ich glaube es war in Norgaardholz.
Sie saßen uns gegenüber als wir in einem Ausflugslokal eine Pause machten um etwas zu trinken. Beide wirkten sehr vertraut, hielten Händchen über den Tisch hinweg. Ich beobachte sie während ich meinen Tee trank. Anton war mit einer Zeitung beschäftigt und so konnte ich mich auf das Paar konzentrieren. Sie, eine brünette Mittdreißigerin. Er ein blonder Däne, wie es schien und seine Augen wechselten, genau wie bei Anton von einer Minute zur anderen die Farbe. Das konnte keine Verwirrung mehr sein. Da musste mehr dahinter stecken.
Aber genau wie ich, verhielt sich die Frau scheinbar völlig normal. Ich wartete bis sie aufstand und Richtung WC lief. In Ruhe schob den Stuhl zur Seite und griff nach meiner Tasche.
„Anton, Schatz? Ich muss mal, bin gleich wieder da. Kannst ja schon bezahlen, dann können wir gleich weiter. Ja?“
Anton schaute von seiner Zeitung auf und nickte. Ich folgte dieser Frau zur Toilette. Dort würden wir alleine sein und ich würde sie ansprechen. Als ich die WC-Tür öffnete, war niemand im Raum, aber ich hörte ein leises schluchzen aus einer der Kabinen vor mir. Beim Waschbecken verharrte ich bis sich die Kabinentür öffnete. Eindeutig, diese Frau hatte geweint.
„Kann ich Ihnen helfen?“ Vorsichtig begann ich ein Gespräch.
Sie sprach sehr leise: „Mir kann keiner mehr helfen.“ Mit dem Handrücken wischte sie über ihre blauen Augen und reichte mir ihre Hand. „Hansen, Sie haben uns beobachtet?“
Ertappt!
„Sorry, ja stimmt. Ich dachte Ihr Mann würde seine Augenfarbe wechseln und das wollte ich beobachten. Ist es Ihnen auch schon aufgefallen?“ Mein Bauchgefühl hatte sich nicht geirrt. Frau Hansen ging es wie mir. Sie hatte es gesehen und konnte oder wollte, genau wie ich nicht darauf reagieren.
„Ja, ist das nicht unheimlich? Ich sehe es seit ein paar Tagen und dennoch ist es mein Mann, der mit mir hier in diesem Lokal sitzt. Aber wie ist es Ihnen aufgefallen?“
„Na ja, sagen wir mal ich bin in dieser Richtung auch seit ein paar Tagen sensibel. Bei meinem Mann ist es genau so und ich habe keine Erklärung dafür. Vom verhalten her ist es mein Mann, vom Wissen her auch nur diese kleine Veränderung macht mir Angst. Wo wohnen Sie?“
„In Steinberg, wir müssen gehen sonst fällt es auf. Haben Sie ein Handy?“
Meines aus der Tasche ziehend wartete ich. Flink tippte ich die genannte Nummer in mein Handy ein, verstaute es wieder an seinem Platz, wusch meine Hände.
„Wir telefonieren, wenn es geht.“ Dann ging Sie zuerst, ich wartete noch einen Moment und folgte.
„Das hat aber lange gedauert?“, fragte Anton und stand auf.
„Frauen, das kennst du doch schon?“ Er lächelte verschmitzt, so wie es seine Art war.
Eigentlich hätten wir packen müssen um nach Hause zu fahren, aber Anton machte keine Anstallten. Es wäre seine Art gewesen, zur Tankstelle zu fahren, den Reifendruck zu prüfen, die Scheibenwaschanlage aufzufüllen, noch einmal zu tanken. Nichts! Er tat nichts von alle dem. Ganz im Gegenteil, er fragte ohne Rücksprache mit mir am letzten Abend vor der Heimreise den Vermieter ob wir noch einen Monat verlängern könnten und dieser stimmte auch noch zu – mit einem farbwechselnden Augenaufschlag.
Mir war alles klar!
Das waren nicht unsere Männer! Waren das überhaupt noch Männer? Waren das noch Menschen?
Mein Herz setzte für eine kurze Schrecksekunde aus, um kräftiger als zu vor in meinem Brustkorb zu hämmern.
Kapitel 3
Keiner sagte etwas, keiner tat etwas!
Alle betroffenen ließen es mehr oder weniger geschehen.
Kein Aufstand, keine Anzeige – bei wem auch?
Es waren nun schon sechs Monate vergangen. Kein Mann war mehr er selbst. Irgendetwas hatte von ihnen Besitz ergriffen. Es gab keine Gewalt, lediglich ein paar wenige Auseinandersetzungen unter Eheleuten.
Mittlerweile fanden regelmäßige Treffen im Gemeindehaus von Steinberg statt. Eingeladen wurde von einer Hilma. Eine blonde androgyne Gestalt, die sowohl anziehend als auch furchteinflößend wirkte. Die Teilnahme war Pflicht. Bei Nichterscheinen wurde man zu Hause oder wo auch immer abgeholt und höflich dorthin befördert. Es wurde begrüßt und über das Zusammenleben gesprochen. Es gab eine Regeltafel und die ausdrückliche Befürwortung der Fortpflanzung.
Regeln:
Folge dem Mann, sei gehorsam.
Pflege dich, wiederspreche nie.
Achte auf deinen Partner, vermehre dich.
Vermeide Gewalt, überzeuge.
Ernähre dich gesund, lebe für das Volk.
Wo man auch hinschaute, sah man schwangere Frauen. Alle etwa im sechsten Monat. Alle in gutem Zustand. Alle von den Männern umsorgt – oder auch bewacht? Nur die jungen Frauen blieben verschont, damit meine ich die, die noch unter sechzehn waren. Warum auch immer, trotzdem waren wir Frauen darüber froh.
Normales Leben – jeder ging seiner Arbeit nach. Keine Frau traute sich etwas zu unternehmen. Wir waren alle auf sonderbare Weise folgsam und irgendwie auch zufrieden – obwohl…
Manchmal schlichen sich in der Nacht Gedanken in meinen Kopf. Heimlich aufzustehen und wegzulaufen. Das Kind, ich war mir sicher, das es ein Kind war, in mir begann sich zu bewegen. Dann erwachte dieses Wesen neben mir, legte seine Hand auf meinen Bauch und die Gedanken waren weg.
Zwei Tage später setzten die Wehen ein. Mir wurde schlecht. Es konnte noch nicht so weit sein. Das war doch nicht normal? Aber was war schon normal und wie würde es wohl aussehen? Ob es auch diese wandelbaren Augen hatte? Würde es wie ein Mensch aussehen? Kurze heftige Gedanken trieben meinen Blutdruck in die Höhe. Etwas griff nach meinem Herzen, so fühlte es sich für mich an. Es war nicht unangenehm, nein eher beruhigend, vielleicht auch sanft. Ich beruhigte mich.
„Wir müssen gehen“, sagte Anton.
„Wohin?“, fragte ich, das hätte ich mir auch sparen können. Er griff nach meiner Hand, legte die andere auf meinen, irgendwie über Nacht mächtig angeschwollenen Bauch. „Ja es ist soweit.“
Wir gingen nach Draußen, wo schon ein Transportmittel auf uns wartete. Darin saßen schon vier weitere Paare. Alle Frauen wie ich, kurz vor der Niederkunft. Alle ängstlich, aber entspannt. Wir tauschten Blicke aus. Frau Hansen saß mir gegenüber und es kamen noch weitere Paare, die auf der Fahrt eingesammelt wurden dazu. Die Scheiben des Fahrzeugs schienen geschwärzt. Wir sahen nicht wohin es ging.
„Wo bringst du mich…?“ Eine allgemeine Wehe, das sah ich an den Gesichtern aller Frauen, ließ mich im Satz unterbrechen.
Über Lautsprecher erklang eine bekannte Stimme: „Bleiben Sie ruhig. Alles wird gut. Kein Grund zur Sorge. Sie werden erwartet.“
Dann ging alles schnell. Die Fahrzeugtür wurde geöffnet. Gleisendes Licht machte mich fast blind. Ich wurde auf eine Trage geschoben.
„Anton, wo bist du? Hilf mir!“ Er war der einzige von dem ich mir Hilfe erhoffte. Er war nicht mehr da.
Ich hörte die anderen Frauen rufen und betteln. Alles entfernte sich? Die Wehen wurden stärker, zerrissen mich fast. Nahe der Ohnmacht brachte ich ein Kind zur Welt. Es sah aus wie ein blonder Engel mit eisblauen Augen die mich intensiv anschauten. Ein Schauer lief mir den Rücken entlang. „Du bist sicher!“
Ich konnte diese Worte deutlich in meinem Kopf hören, aber nicht begreifen. Dann wurde ich endlich Ohnmächtig.
Irgendwann erwachte ich, in meinem Zuhause. Alles wirkt befremdend. Ich lag im Bett und Anton und ein etwa dreizehnjähriges blondes Mädchen spielten im Esszimmer Schach.
„Schau mal, die Mama ist wach!“ Anton stand vom Tisch auf und kam zu mir. „Na Schatz, alles gut überstanden? Siehst gut aus. Komm, ich helfe dir. Wir haben Kuchen für dich gebacken. Hilma wird auch gleich da sein.“
Kuchen? Hilma? Dieses Kind das gerade Wegs auf mich zu lief: „Mama! Ich bin Evi. Kommst du?“
Mein Gott! Wie lange war ich Bewusstlos? Ich konnte es nicht realisieren. Anton half mir auf. Ich war vollkommen bekleidet mit einem weißen langen Kleid. Etwas wackelig ging ich zum Tisch und setzte mich. Mein Kopf schien vollkommen klar und doch war das hier nicht real. Oder doch? An was konnte ich mich erinnern?
Es klingelt an der Haustür. Anton ging öffnen und sprach leise mit dieser Frau, die da in der Tür stand.
„Du bist sicher!“ Ich konnte es laut und deutlich in meinem Kopf hören, aber keiner Sprach mit mir.
Diese Frau kam auf mich zu. Ich wisch instinktiv zurück.
„Hallo Evi, na geht es dir gut?“, sage sie zu Evi gewandt, dann schaute sie zu mir: „Ich bin Hilma deine Hebamme. Wie geht es dir heute?“
Sie reichte mir die Hand. Ich wollte gerade danach greifen, wieso überhaupt und wer war das?
Evi stellte sich vor mich an den Tisch und hinderte mich daran. Ich konnte sehen, dass das Hilma nicht gefiel. Spöttisch verzog sie ihre Lippen, ging einen Schritt zurück.
„Was soll das Evi, mach Platz, damit ich deiner Mutter die Hand geben kann.“
„Um was zu tun?“
Hilma stockte, sah zu Anton, der die Achseln hob, dann zu mir. „Ich gehe dann besser mal. Ist heute nicht das erst Mal, das ich gehindert werde. Das wird noch Konsequenzen haben.“
Die Haustür fiel mit einem lauten „Wums“ zu.
Anton wirkte irgendwie erleichter und holte den Kuchen aus der Küche. Evi räumte das Schachspiel zur Seite und deckte den Tisch, während ich wie angewurzelt auf meinem Platz saß.
„Moment noch!“ Evi legte Anton die Hand auf seine Schulter. „Bin gleich wieder da!“ Sie ging und ich hörte, das eine Zimmertür sich schloss.
Anton stellte den Kuchen auf dem Tisch ab. „Du must keine Angst mehr haben, ich bin wieder ich. Ehrlich!“ Er küsste einen leichten Kuss auf meine Wange. Es fühlte sich richtig an, irgendwie.
„Die anderen Männer auch?“, fragte ich.
„Ich glaube schon. Du wirst es noch verstehen, unsere Kinder sind stark. Hilma hat keine Macht mehr, auch wenn sie das immer noch nicht wahrhaben will.“
„Wo bleibt das Kind so lange?“
„Keine Angst sie ist gleich wieder da. Aber du darfst nicht erschrecken. Es ist alles in Ordnung. Ich verspreche es dir.“ Anton legte mir beruhigend seine Hände auf die Schultern.
Ich hörte im Nebenraum, dass Schranktüren geöffnet wurden und Kleiderbügel klirren.
„Willst du nicht mal nach sehen?“
„Nicht notwendig. Ich kenne das schon. Ist in den letzten Wochen schon mehrmals passiert.“
Mir wurde nun doch etwas mulmig im Bauch. Unruhig rutschte ich auf meinem Stuhl herum. Eine Zimmertür wurde geöffnet und eine junge Frau kam ins Esszimmer.
„Bin wieder da. Na, wie sehe ich aus?“
„Bezaubernd mein Schatz!“ Anton war zu ihr hingegangen und küsste sie.
„Evi???“ Ich traute meinen Augen nicht. Dasselbe blonde lockige Haar, dieselben eisblauen Augen. Dasselbe Lächeln wie eben noch bei diesem Kind gesehen.
„Ja Mama, das bin ich. Ich bin jetzt fertig. Es wird keine Verwandlung mehr geben und ich werde genau so altern wie du und Papa. Lass uns essen und dann zeige ich dir was du vergessen hast.“
„Ich kann jetzt nichts essen. Wer bist du? Was bist du?“ Meine Augen suchten Hilfe bei Anton.
„Zeig es ihr Schatz. Sie ist deine Mutter und hat ein Recht darauf es zu verstehen.“
„Wie du meinst Papa. Sie hat aber seit Tagen noch nichts gegessen. Bist du dir sicher?“
„Ja! Tu es. Sie wird es überleben, ich bin bei dir.“
„Ihr macht mir Angst. Was soll das?“
Evi griff nach meinen Händen. Es fühlte sich so gut an. „Schließ deine Augen.“
Wie in einem Film liefen die Gedanken und Bilder durch meinen Kopf.
Ich sah die Anfänge als Anton nicht mehr Anton war. Sah wie sich alles um mich herum veränderte, die Menschen. Sah mich, wie ich immer dicker wurde. Sah die Geburt und dieses wunderbare Wesen, das ich zur Welt gebracht hatte.
Sah diese Hilma, wie sie mir das Kind weg nahm und mich berührte.
Sah wie ich in einen tiefen Schlaf fiel und Anton mich nach Hause brachte. Sah seine Trauer darüber. Sah Evi mit vielen anderen Babys in einem Zimmer. Alle hatten die gleichen blonden Haare und dieselben eisblauen Augen. Ammen versorgten sie.
Sah die erste Verwandlung. Sah, dass alle Kinder sich anfassten und irgendwie miteinander zu kommunizieren schienen, wenn die Aufseher den Raum verlassen hatten.
Sah Männer die Essen für die Kinder brachten und den Raum blitzartig verließen, nachdem alle Kinder sie intensiv angesehen hatten.
Sah eine zweite Verwandlung und Frauen die Kleidung für die etwa fünfjährigen brachten. Diese zogen sich an und bildeten danach einen geschlossenen Kreis. Kein Kind sprach ein Wort, aber alle schienen sich zu verstehen.
Nach der dritten Verwandlung, die Kinder mussten nun etwa acht Jahre sein, überwältigten sie den Aufseher, versetzten ihn in einen schlafartigen Zustand und verließen geschlossen den Raum, in dem sie gefangen waren. Alle entkamen unbemerkt zu ihren Eltern.
Ich sah Evi mit Anton. Sie hatte ihn an beiden Händen gehalten. Danach umarmten beide sich liebevoll.
Ich sah Evi mit etwa zehn Jahren an meinem Bett sitzen und sie ließ Flüssigkeit in meinen Mund fließen. Anton kam dazu und pflegte mich.
Ich sah Hilma, die mehrfach versuchte den Kindern habhaft zu werden. Jedoch ohne Erfolg. Jedesmal musste sie aufgeben. Alle Kinder bewachten ihre Eltern und schützten sie vor Hilma.
„Nun kannst du die Augen wieder öffnen. Geht es dir gut?“ Besorgnis lag in Evi´s Stimme.
Durch tränenfeuchte Augen sah ich meine Tochter. Ich verstand nicht das Warum und Wieso, aber ich begriff, dass Evi real war und auf meiner Seite stand.
„Du bist sicher. Das verspreche ich dir“, hörte ich wieder deutlich in meinem Kopf.
Keiner von uns hatte ein Wort gesprochen – nur Evi blickte mir tief in die Seele.